Ein weiteres Mal auf der Muschelinsel angekommen, befinde ich mich wieder auf dem Holzsteg. Am Ufer wartet mein Floß bereits auf mich, und ich kann sofort wieder an das andere Ufer, zu Marge’s Hütte fahren. Was würde Miranda wohl zu erzählen haben?
Ich klopfe und Marge öffnet mir. Nach meinem Eintreten kommt mir Miranda, mit offenen Armen, strahlend entgegen. Wir umarmen uns ganz dolle. „Ich habe gehört, Du hast meine Muschel gefunden!“, ruft Miranda vor Freude. „Na ja, stimmt nicht ganz, ein Meermädchen, namens Mariel hat sie mir gebracht.“, korrigiere ich das Mädchen. „Jetzt setzt Euch erstmal an den Tisch, damit wir in Ruhe reden können.“, sagt Marge. „Mensch, Mama, ich möchte aber meine Muschel wieder haben!“, quengelt Miranda. „Ich kann Deine Mutter verstehen, denn schließlich wollen wir alle wissen, was passiert ist, bevor Du quatschnass und heulend bei Deiner Mutter angekommen bist.“, stimme ich Marge zu. „Wie peinlich! Mama hat Dir erzählt, dass ich geweint habe!“, quengelt Miranda weiter. Ich schüttle den Kopf und erwidere: „Da ist überhaupt nichts peinlich daran.“ Seufzend setzt sich nun auch Miranda.
„Also, mein Schatz, nun erzähl.“, kommt von Marge die Aufforderung an Miranda.
„Ich habe meinem Vater und seiner Frau eröffnet, dass ich zu Dir, also zu meiner Mutter ziehen möchte, und das ich nicht mehr bereit dafür bin, die Sklavin meines Vaters, seiner Frau und meiner Stiefschwester zu sein. Sie müssten zukünftig selbst für sich sorgen. Und außerdem sollte es ja eigentlich so sein, dass Vater als Familienoberhaupt, gemeinsam mit Stiefmutter für uns Kinder sorgt. Daraufhin ist Vater richtig wütend geworden, hat mir einen Schlag auf die Hand gegeben, in der ich die Muschel hielt. Reflexartig ließ ich die Muschel fallen. Aber bevor ich sie mir greifen wollte, war Tamina da, hob die Muschel auf und gab sie meinem Vater. Der schrie“: „Wie kannst Du es wagen, so frech zu sein, Miranda? Jetzt werde ich diese Gottverdammte Muschel ins Meer werfen. Und Du bleibst hier, bis Du 18 bist! Aber ich habe eine Idee, für einen Deal. Solltest Du es jemals schaffen, diese Muschel im Meer wieder zu finden, gebe ich Dich frei, und Du kannst gehen, wohin Du willst!“.
Miranda hielt inne. Die Tränen kamen ihr. Unter Tränen führt sie ihre Erzählung fort:
„Ich lief hinaus, wollte meinen Vater aufhalten. Meine Stiefschwester Tamina wollte ebenfalls mit hinaus laufen, aber Stiefmutter hielt sie zurück. Tatsächlich warf Vater die Muschel ins Meer und lachte dabei höhnisch. Ich stieß ihn zur Seite, in Richtung Hauseingang und sprang in meiner Verzweiflung ins Meer. Doch ich konnte sie nicht mehr fassen. Dann war mir alles egal. Zurück nach Hause zu meinem Vater wollte ich nicht mehr, also schwamm ich den ganzen Weg ans andere Ufer zu meiner Mutter. Und was für ein Segen, dass die Meerwesen geholfen haben und die Muschel ans Ufer gebracht, und Dir die Aufgabe übertragen haben, mir die Muschel wieder zu geben. Aber wo ist sie nun?“
„Du hättest krank werden können, Kind!“, meint Marge und holt die Muschel aus der Schublade. Sie gibt mir die Muschel und ich reiche sie feierlich an Miranda weiter. „Danke! Danke! Danke!“, ruft Miranda, steht auf, umarmt und küsst mich auf die Wangen.
„Du möchtest also zu mir ziehen?“, fragt nun Marge. Miranda nickt. „Dann wollen wir das Siedeln schnell hinter uns bringen. Er muss Wort halten, denn immerhin hast Du Deine Muschel wieder.“
Wir gehen also ans Ufer. Marge fährt mit ihrem eigenen Boot und Miranda setzt sich mit mir auf das Floß.
Auf dem Steg angekommen, gehen wir sogleich zum Haus. Marge betätigt die Glocke. Die Stiefmutter öffnet. Sie ist kreidebleich, als sie uns alle davor stehen sieht. Marge hat vorsorglich einen Koffer mit genommen, um Miranda’s Habseligkeiten darin zu verstauen. Miranda selbst hat zudem einen Rucksack mit.
„Mike, Deine Ex ist da, mit Deiner Tochter und der Fremden im Schlepptau.“, verkündet die Stiefmutter entgeistert ihrem Mann.
„Was wollt Ihr hier? Und Miranda, bist Du noch ganz bei Sinnen, einfach wegzulaufen, bzw. ins Meer zu springen? Und so etwas Unvernünftiges wie Du, soll ich freigeben und eigene Entscheidungen treffen lassen? Deine Muschel ist ja sowieso schon irgendwo im Nirgendwo des tiefen Meeres!“
Bevor Miranda etwas antworten kann, drängt sich Marge nach vor zu ihm und brüllt ihn an:
„Mike, nun frage ich Dich, bist Du noch ganz bei Sinnen, das Kind so zu erpressen und in Gefahr zu bringen? Schäm Dich, unsere Tochter so schlecht zu behandeln!“ Miranda geht nun zu ihrem Vater und hält ihm die Muschel hin. „Hier ist sie, Vater, ich habe meine Muschel wieder. Und nun, halte Dich an den Deal und lass mich zu Mutter ziehen!“
Mike lacht nur und meint: „Und Du hast mir das wirklich geglaubt? Wie naiv bist Du eigentlich? Das habe ich ja nur so dahin gesagt, mit dem Deal. Du bleibst hier, Miranda! Und Du, Marge, verlässt mit der Fremden augenblicklich unser Haus!“
„Es reicht! Ich ziehe aus, ob Du willst oder nicht, Vater!“, schreit Miranda unter Tränen. Doch der Vater weigert sich weiterhin, den Weg zu Miranda’s Zimmer frei zu geben. Die Stiefmutter schaltet sich ein und sagt: „Mensch, Mike, lass sie doch durch. Soll sie doch gehen, dann haben wir unser eigenes Leben, und sie hat ihres, bei ihrer Mutter. Ist mir eh lieber. Soll die leibliche Mutter sich mal um das Gör kümmern!“ Bei diesen Worten ist deutlich zu merken, dass die Stiefmutter Miranda nicht leiden kann.
„Nun gut. Aber die Fremde geht nicht mit, mit Euch. „Oh doch, Vater. Sie ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass ich meine Muschel wieder habe.“, entgegnet Miranda trotzig. „Stopp! Der Deal gilt nicht, wenn jemand anderer die Muschel für Dich gefunden hat!“, ruft der Vater. „Ach, halt doch den Mund!“, ruft Marge.
Die Stiefmutter zieht Mike an ihre Seite und Miranda zieht mich an der Hand schnell an ihnen vorbei.
Miranda führt Marge und mich in ein kleines, dunkles Zimmer, in welchem ein Bett, ein Kleiderschrank und ein kleiner Schreibtisch steht. Die meisten Klamotten, die Miranda besitzt, sind alt und kaputt. Nur wenige Sachen sind noch schön und brauchbar. Stiefschwester Tamina hat immer alles bekommen, aber für Miranda hatte man nie was übrig. „Du brauchst das nicht. Sei zufrieden, mit dem was Du hast. Du bis eh nur beim, und am Meer.“, hatte ihr Vater einmal gesagt. „Außerdem bin ich jetzt Papis neue Prinzessin.“, meinte daraufhin Tamina spöttisch, und ließ sich von ihm Huckepack nehmen.
Sie packten die wenigen Dinge in den Koffer. Ihre wenigen CDs, ein paar Plüschtiere und einen Diskman mit Kopfhörern packte Miranda in ihren Rucksack, und das kleine Radio.
Kaum waren wir wieder aus dem Zimmer draußen, kommt die Stiefmutter hinzu und übergibt Marge einige Geldscheine, mit den Worten: „Danke, dass Du Dich nun um Dein Kind kümmerst. Kauf ihr damit was schönes.“. „Ein Kind kann man nicht mit Geld frei kaufen. Und ich weiß doch, wie sehr Du meine, unsere Tochter nicht leiden kannst. Dennoch sage ich danke und wir können das Geld gut gebrauchen.“
Währenddessen ist der Vater bei Tamina im Kinderzimmer. Die Stiefmutter klopft und ruft ihn heraus. „Sie sind fertig und wollen gehen. Du solltest Dich wenigstens trotzdem verabschieden, Mike.“ Dieser kommt mit Tamina an der Hand heraus, richtet den Blick auf Miranda und sagt spöttisch: „Na dann, schönen Urlaub bei Deiner Mutter. Ich wette, in ein paar Wochen stehst Du eh wieder bei uns auf der Matte!“. Hastig schüttelt Miranda den Kopf und erwidert: „Nein, Vater, es ist mir mit dem Umzug wirklich ernst. Tschüss, Ihr habt nun Euer eigenes Leben.“
Nach einem kurzen auf Wiedersehen, bei dem man mich gar nicht beachtet, verlassen wir das Haus. Marge hält noch immer die Geldscheine fest umklammert, steckt sie aber schließlich doch in ihre Tasche. Nun fährt Miranda mit ihrem eigenen, kleinen Boot an das andere Ufer.
Siedeln mit Hindernissen, aber es hat letztlich alles doch gut geklappt. Ich lasse Mutter und Kind erstmal für sich sein und verabschiede mich. Miranda passt es gar nicht, dass ich gehe, aber wie immer verspreche ich, wieder zu kommen.